»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …«

Verwandtschaften, Varianten, Veränderungen, Vergleiche im Volkslied

30. Oktober 2024

Lesezeit: 16 Minute(n)

Text: Ernst Schusser und Eva Bruckner

Wenn man Lieder wie Familien betrachtet, dann gibt es Väter und Mütter, aus denen etwas hervorwächst, das vielleicht sogar mit den Großeltern und anderen Vorfahren zu tun hat. Wenn man Lieder wie Geschwister betrachtet, dann gibt es wie bei den Menschen ganz unterschiedliche Ausprägungen aber auch eineiige und zweieiige Zwillinge und Mehrlinge. All das hat die Volksliedforschung bezogen auf Landschaften / Regionen, Zeitentwicklung / Generationen, soziales Umfeld und Funktion (usw.) in sprachlichen, musikalischen, gesellschaftlichen, kulturellen, ideologischen (usw.) Zusammenhängen thematisiert. Meist geschah das auf der Basis von privaten und öffentlichen Sammlungen – vor allem aber anhand des Materials aus vielen Zeiten und Landschaften, das im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) in Freiburg gesammelt und eingeordnet wurde.

Auch für unsere Arbeit am damaligen Volksmusik­archiv des Bezirks Oberbayern (VMA) und unsere private Volksmusikarbeit vorher und jetzt als Rentner sind diese Sammlungen grundlegend. Schon sehr früh haben wir versucht, alle relevanten Belege und Beispiele in Lied, Musik, Tanz und Brauch mit regionalem und personellem Bezug zu Oberbayern in Original oder Kopie zusammenzuführen – und damit das Leben der musikalischen Volkskultur in Gegenwart und Vergangenheit in aller Vielfalt und erkennbaren Verwandtschaft zu dokumentieren und das Wissen darüber zu vermitteln. Derzeit sind uns persönlich diese hunderttausendfach erarbeiteten und mit Hilfe des speziell seit den 1980er-Jahren gefütterten EDV-Programms Infobase untersuchbaren Materialien zum Lied-Leben und den Lieder-Familien nicht im ausreichenden Maße zugänglich. Deshalb stützen wir uns bei diesem kleinen Beitrag auf öffentlich zugängliche Quellen und unsere veröffentlichten Arbeiten.

Liedverwandtschaften

Bei der Erkundung von Liedverwandtschaften ist das von Prof. Dr. Otto Holzapfel auf der Basis der Bestände am DVA (heute in seiner Gesamtheit, vielfältigen Sammlung und Quellenaufbereitung ein bedeutender und umfassend zugänglicher Teil vom Zentrum für Populäre Kultur und Musik) fachkundig erarbeitete Liedverzeichnis mit seinen unterschiedlichen Dateien (auf neuestem Stand zugänglich über www.ebes-volksmusik.de) eine wesentliche Hilfe. Zusätzlich haben wir unsere kleine private Bibliothek und Sammlung anhand ausgewählter Beispiele durchstöbert. In besonderer Weise sind wir bei den umfangreichen Publikationen unserer Reihe Auf den Spuren … (VMA 1987 bis 2018) fündig geworden, in denen wir für Bus-Exkursionen mit Volksmusikfreunden in unterschiedliche deutschsprachige Landschaften von Südtirol bis zum Harz und Westerwald, vom Burgenland und der Gottschee bis ins Elsass und den Hunsrück in 32 Bänden die volksmusikalischen Eigenheiten der jeweils bereisten Regionen angesprochen und die beispielhaften Vergleiche und Verwandtschaften mit in Oberbayern vorhandenen Liedern, Melodien, Tänzen und Bräuchen dargestellt haben.

Vier unterschiedliche Liedverwandtschaften wollen wir kurz darstellen – bei Interesse können wir den Lesern gern weiteres Material zu den vier Beispielen mitteilen. Sie stammen aus der Dokumentation des nicht-bühnenorientierten und nicht-medienbezogenen Singens der Menschen, aus dem natürlichen Selber-Singen Einzelner oder kleiner Gemeinschaften in den letzten 200 Jahren.

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Die Lorelei

Viele kennen noch das deutsche Volkslied Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, das Heinrich Heine (1797–1856) im Jahr 1823 für seine Reisebilder (Hamburg 1826) gedichtet und Friedrich Silcher (1789–1860) in Tübingen 1838 mit der heute gebräuchlichen Melodie versehen hat. Seither ist es in vielen Gebrauchs- und Schulliederbüchern abgedruckt. Daneben haben sich noch andere Komponisten wie Robert Schumann (1810–1856) mit ganz unterschiedlichen, aber nicht volkläufig gewordenen Melodien versucht.

Holzapfel ordnet den Text ein: Als Sagenfigur ist die Lorelei eine Schöpfung der Romantik. Der jugendliche Clemens Brentano (1788–1842) dichtet 1799 in Jena die Ballade Lore Lay, die Zauberin (vgl. 1801 Rheinmärchen). Der Name Loreley ist bereits vorher mit dem Rheinfelsen verbunden gewesen, wo eine Sage z. B. den verborgenen Nibelungenschatz verortet.

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Über die Schulen und die Männerchöre ist das Lied (bis heute) populär geworden. Franz Magnus Böhme (1827–1898) formuliert 1895: »Das überaus beliebte Lied wird nicht vergessen […] und singen es die Deutschen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit […] überall wo fröhliche Gesellschaft beisammen sitzt.« Natürlich gab es im auswendigen Singen vielfach kleine Textabweichungen. Die große Popularität des Liedes und der Lorelei-Sage führte auch dazu, dass sich jemand an einer Parodie des Textes auf eine (früher) bekannte Marschmelodie versuchte. Mehrfach konnte die neuere bayerische Feldforschung Belege dafür aufzeichnen, z. B. in Bayerisch Schwaben (u. a. durch Dagmar Held 1988) und in Franken (u. a. durch Armin Griebel, Heidi Schierer 1999).

Viele Materialien zur Lorelei sind zu finden im Band 21 Auf den Spuren (VMA 2008, Rhein und Westerwald). Dort finden sich auch Melodie- und Textaufzeichnungen zur Parodie, wie diejenige, die wir im Jahr 2008 aus Hohenwart bei Schrobenhausen (Oberbayern) von Monika und Hans Gottwald und Walter Kreitmayr erhalten haben. Von alten und jungen Mitgliedern des Männerchores wurde das Lied auswendig und lautstark im Marschrhythmus in geselliger Runde angestimmt.

Wir singen diese Fassung gern bei unseren geselligen Singen im Angebot Natürlich selber singen, das das soziale und gemeinschaftliche Leben der Menschen fördern soll. Bei »Pumps« in der 3. Strophe wird von einigen mit der Hand auf den Tisch geschlagen.

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Nun ist die Zeit und Stunde da

Dieses Auswandererlied haben wir in unseren Exkursionsbroschüren Auf den Spuren vielfach in deutschsprachigen Landschaften festgestellt und Fassungen abgedruckt, z. B. ganz umfangreich bei den nach Amerika ausgewanderten Westpfälzer Wandermusikanten (Bd. 10, 1995), aber auch aus der Gegend von Heidelberg und aus dem Odenwald (Bd. 14, 1998 – Slg. Bender, Slg. Marriage), aus dem Appenzeller Land (Bd. 16, 2001 – »In der Zentralschweiz verbreitet«), in Kärnten (Bd. 18, 2004 – Slg. Anderluh und Liebleitner), im Elsass (Bd. 19, 2005 – Slg. Lefftz in vielen Orten) oder Thüringen (Bd. 25, 2013).

Für einen Besuch zu 75 Jahre Deutsches Volksliedarchiv Freiburg (19141989) haben wir in unserer Reihe Auf den Spuren (Bd. 3) eine Broschüre mit über 120 Seiten erstellt, die ganz wesentlich DVA-Bestände aus Bayern behandelt. So ist neben vielen anderen Dokumenten auch eine Reinschrift eines Liedes (DVA A–166819) aus der Sammlung der Geschwister Pepi (1892–1980) und Berta Schiefer (1904–1979) aus Laufen an der Salzach abgedruckt, die der Kiem Pauli (1882–1960) angefertigt und mit anderen maschinenschriftlichen Dokumenten im September 1941 an das DVA gegeben hat. In 14 Strophen geht es um Die Abreise ins Amerika!, ohne Melodie und ohne weitere Angaben zu der Singart.

Der in einfacher Schreibart auch nahe der Sprechweise gehaltene Text ohne viele Satzzeichen zeigt Motive und Formulierungen aus Abschiedsliedern und ist in Teilen – auch in den Amerika betreffenden Passagen und oft mit weniger Strophen – weit verbreitet. Man merkt, dass die Auswanderung ein großes Wagnis, ein großer und meist unumkehrbarer Schritt in die Fremde ist, nicht nur was die Ortsnamen betrifft. Die letzten Strophen warnen gar vor dem Verlassen der Heimat.

Eine Melodie konnte ich zu meiner Bundeswehrzeit bei den Gebirgsjägern in Bad Reichenhall Mitte der 1970er-Jahre in einem Wirtshaus in Anger/BGL von alten Männern am Stammtisch festhalten. Sie kannten vom Amerikalied nur noch ein paar Textfragmente, die angeblich noch nach 1945 gesungen wurden, wenn Amerikaner in die Wirtschaft kamen. Einer, der schon verstorben war, hat den Text genau gewusst und war der Osinga, die anderen am Tisch haben ihn dann wiederholt.

Die Abreise ins Amerika!

[1.] Jetzt ist die Zeit und Stunde da
Wir reisen nach Amerika
der Wagen steht schon vor der Tür
Mit Weib und Kinder reisen wir.

[2.] All ihr Freund und Anverwandt
Reicht uns zum letzten Mal die Hand
Wir reisen nicht aus dieser Welt
Es ist ein Gott der uns erhält.

[3.] Und kemen wir in Bremen an
da heißt es Bruder tret heran
Wir schwingen all die Hüt auf d Höh
Und sagen Teutschland nun adie

[4.] Das Schiff das auf dem Wasser schwimmt
Der liebe Gott der uns erhillt
Wir fürchten keine Wassergfahr
Und glauben Gott ist überall.

[5.] Dann kamen wir aufs hohe Meer
Da hilft uns Gott mit seiner Ehr
Wir blicken nocheinmal zurück
O Heimat dich vergiss ich nicht

[6.] Dann kamen wir an in Bastor
Da heben wir die Händ empor
Wir sagen all Viktoria
Jetzt sind wir in Amerika.

[7.] Da gehen wir in Stadt hinein
Wo viele Deutsche Brüder sein
Wir sagen alle Gottseidank
Jetzt sind wir in gelobten Land

[8.] Jetzt kamen wir in eine Stadt
Die Neiorg den Namen hat.
Jetzt Wanderer nimm dich in acht
Sonst kommst du um die ganze Sach.

[9.] Von Neiorg ziehen wir wieder fort
Wir blieben nur eine Nacht aldort
Wir sagen adie du schöne Stadt
Die uns so sehr betrogen hat.

[10.] Ja manchmal redt man noch ein Wort
Warum diese alle sind jetzt fort
Es blakte sie hier keine Noth
in ein so fernes Land o Gott.

[11.] Sie reisten so weit fort o Gott
Doch haben sie uns nicht gekannt
Das Klima können sie nicht ertragen
Und auch nicht viel zu leben haben.

[12.] Ja lieber Deutscher ich kann dir sagn
Wir haben schon gar viel erfahren
Es ist erst eine kurze Zeit
Zwei sind schon in der Ewigkeit.

[13.] Ja lieber Freund denk ernstlich nach
willst du reisen nach Amerika
keine Lustbarkeit ist nirgends dran
Arbeiten heißts soviel man kann.

[14.] Warum ich dahin nicht reiss
Es ist alldorten viel zu Neiss
Wir bleiben hier in Deutschland da
Und sagen adies Amerika (1864).

Eine Melodie konnte ich zu meiner Bundeswehrzeit bei den Gebirgsjägern in Bad Reichenhall Mitte der 1970er-Jahre in einem Wirtshaus in Anger/BGL von alten Männern am Stammtisch festhalten. Sie kannten vom Amerikalied nur noch ein paar Textfragmente, die angeblich noch nach 1945 gesungen wurden, wenn Amerikaner in die Wirtschaft kamen. Einer, der schon verstorben war, hat den Text genau gewusst und war der Osinga, die anderen am Tisch haben ihn dann wiederholt.

Die verschiedenen Fassungen vom Amerikalied haben mindestens acht unterschiedliche Melodien aber doch sehr verwandte Texte in vielen, vielleicht auch dem eigenen Ziel und der persönlichen Situation angepassten Formulierungen. Holzapfel führt den Text auf Samuel Friedrich Sauter (1766–1846) zurück (1830), der die überaus schlechte Lebenssituation beschreibt, die auch zu Auswanderungen führte (Gedichte des armen Dorfschulmeisters, Karlsruhe 1845, »Nun ist die Scheidestunde da, Adje! Wir ziehen nach Amerika«). Sauter hat sich wohl an bekannten Abschiedsliedern der Zeit orientiert.

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In den Liedersammlungen aus Südtirol (Quellmalz), Franken (Brosch, Nützel), Burgenland (Dreo, Gmasz, Burian), Niederösterreich und Steiermark (Schlossar), Böhmerwald (Jungbauer) und mehreren Gebrauchsliederbüchern aus Bayern (z. B. von den Brüdern Well) ist dieses Lied in unterschiedlichen Fassungen vertreten und wird teils als Amerika-Lied bezeichnet. Nach unseren Erinnerungen ist der Text auch in mehreren Lieder-Handschriften festgehalten.

Wastl Fanderl zitiert in Oberbayerische Lieder (München 1988) aus dem Gedächtnis den Sänger Christl Arzberger (1934–2001) aus Wasserburg am Inn mit verwandter Melodie. »Er hat das Lied seit den fünfziger Jahren in Erinnerung, als es nach ausgedehnten Proben des Zitherclubs gern der damalige Stadtamtmann Willi Röckeisen mit seiner Frau anstimmte.« Arzberger hat es dann mit seinem Singfreund Gerhard Tristl weiterhin gesungen (wobei die letzte Silbe in der zweiten Textzeile mit dem »a« immer bewusst eine Terz hinaufgeschliffen wurde), auch mit weiteren, von Fanderl nicht wiedergegebenen Strophen. In Gesellschaft wiederholten die Nachsänger aus der Runde den Text auf die gleiche Melodie:

  1. Jetzt ist die Zeit und Stunde da,
    wir reisen nach Amerika. :|
  2. Die Pferde sind schon angespannt,
    wir reisen in ein fernes Land. :|
  3. Das Schifflein schaukelt bald hier, bald da,
    bald sind wir in Amerika. :|

Schon der Münchner Volksliedsammler August Hartmann (Historische Volkslieder …, Band 3, München 1913, Lied 288) bringt den Text (ohne Melodie) mit der Jahreszahl 1857 und der Angabe: »In einem handschriftlichen Liederbuch zu Endorf (Oberbayern) und in einem anderen zu Goldegg (Land Salzburg)«. Als Germanist suchte Hartmann nach den Urformen der aufgezeichneten Lieder und nahm auch Verbesserungen im Text vor, wohl auch bei Wiedergaben aus Liedhandschriften der einfachen Leute. Hinweise auf die Singart sind nicht gegeben, es sind vier Langstrophen, die aber auch als acht Zweizeiler mit Wiederholung durch Nachsänger zu gebrauchen sind:

  1. Nun ist die Zeit und Stunde da,
    Wir reisen nach Amerika.
    Der Wagen steht schon vor der Tür;
    Mit Weib und Kinder ziehen wir.
  2. Ihr Freunde, die zu uns verwandt,
    Reicht mir zum letztenmal die Hand!
    Wir ziehen nicht aus dieser Welt;
    Es ist ein Gott, der uns erhält.
  3. Und wenn das Schiff im Meere schwimmt
    Und über uns ein Sturmwind kommt,
    Wir fürchten keinen Wasserfall
    Und denken: Gott ist überall.
  4. Und kommen wir nun in das Land,
    Heben empor wir unsre Hand
    Und rufen aus: Victoria!
    Jetzt sind wir in Amerika.

Bei der Feldforschung für die Oberbayerischen Kulturtage in Prien am Chiemsee 1987 haben wir auf Vermittlung von Jakob Irrgang (1938–2006) von einer älteren, schreibkundigen Frau sieben Strophen vom Amerikalied dokumentiert (Überlieferte Volksmusik aus Prien und Umgebung, München 1987, S. 252) und zum gemeinsamen Singen mit einer Melodie für Vorsänger und Nachsänger verbunden. Als Beispiel, wie die Sänger ihre Gebrauchsaufzeichnungen frei anlegen und Formeln und Strophenteile variieren, ist hier der Text zum Vergleich mit obigen Strophen angegeben.

  1. Jetzt ist die Zeit und Stunde da,
    wir reisen nach Amerika.
    Der Wagen steht schon vor der Tür,
    mit Weib und Kindern reisen wir.
  2. Und all ihr Freund und Anverwandt,
    euch geben wir z’letztmal die Hand.
    Wir reisen nicht aus dieser Welt,
    es ist ein Gott der uns erhält.
  3. Jetzt kommen wir in Bremen an,
    da heißts: Ihr Brüder, tret’ts heran!
    Wir schwingen alle d’ Hüt in d’ Höh,
    Und sagen Deutschland nun Adie.
  4. Jetzt kommen wir auf’s hohe Meer,
    da hilft uns Gott mit seiner Ehr.
    Und blicken noch einmal zurück:
    O Heimat, dich vergiß ich nicht!
  5. Das Schiff, das auf dem Meere wiegt,
    es ist ein Gott, der uns behüt.
    Wir fürchten keine Wassersgfahr
    und glauben Gott ist überall.
  6. Jetzt kommen wir nach Baltimor,
    da heben wir die Hand empor.
    Wir alle sagen: Gott sei Dank,
    jetzt sind wir im gelobten Land.
  7. Jetzt gehen wir zur Stadt hinein,
    wo viele deutsche Brüder seind,
    und alles singt Viktoria,
    jetzt sind wir in Amerika.
Es naht die holde Frühjahrszeit

Eine singende Wirtshausgesellschaft älterer Männer in Günzenhausen (Landkreis Freising) hat um 1988 ihre am meisten gesungenen Lieder auf Tonkassette aufgenommen, nicht zum Vertrieb sondern als Erinnerung an ihre singerischen Gesellschaftstage. Die Lieder erklingen rauh und herzlich in der örtlich überlieferten Form und wurden von der vorausgegangenen, meist in den 1960er-Jahren verstorbenen Generation übernommen. Eines ihrer wichtigsten Lieder war die Frühjahrszeit, das wir bei unseren Feldforschungen in anderen Gegenden Oberbayerns vielfach in Varianten des Textes, der Melodie und im Takt (frei, gerader Takt, Dreivierteltakt) feststellen konnten. In Ginznhaun wurde das Lied etwa in dieser Form gesungen, lautstark, nicht zu schnell, nicht zu tief (mindestens F- oder G-Dur), mit deutlichen Schnaufern nach jeder Textzeile.

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Wir waren fasziniert von dem kraftvollen und überzeugten Gesang in natürlicher Zweistimmigkeit. Ganz selbstverständlich wechselten die Sänger von Anklängen an die Hochsprache zur Mundart und wieder zurück. So wollten wir bei unseren geselligen Singen auch mit den Leuten die Lieder anstimmen. Keinen störte der sprunghafte und in der Folge offene Text. Die Freude, mit einem Schuss zwei »Gamserl« zu erlegen, dominierte den Liedausdruck – und natürlich die allseitige Freude, die im Zusammenspiel von Melodie, Drübersingen, hohem Anstimmen und Text zum Ausdruck kommt.

Holzapfel weist beim Textanfang »Jetzt kommt die schöne Frühlingszeit, wo alle Bäumlein blühn …« auf einen Beleg in der von Wolfgang A. Mayer umfangreich dokumentierten und 1999 veröffentlichten Raindinger Handschrift (Niederbayern 1845–1850) hin und bringt weitere sehr umfangreiche und aufwendig zusammengetragene Hinweise. Mayer hat das Lied Nr. 96 Allma-Lied (Singhinweis »Langsam«) der Handschrift (278 Lieder), die er von Rudi Rehle (Kreuth) bei einem Volksmusikwochenende des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege in Scharling erhalten hatte, sehr umfangreich kommentiert, Varianten und Verbreitung aufgezeigt und auf verschiedene inhaltliche Motive und Formalien hingewiesen:

  1. Jetzt kommt die schöne Frühlingszeit,
    wo alle Bäumlein blühn,
    wo alle Bäumlein blühn;
    da treibt die schönste Senderinn
    auf d Allma ihre Küh.
    Hodl-je-o! Hodl-je-o!
    Da treibt die schönste Sennderinn
    auf d Allma ihre Küh.
  2. Sie treibt sie auf a hohe Allm
    Wo viele Hütten sein. …
    Dort ist die schönste Sennderinn
    Bei der da kehrn wir ein. …
  3. Da nimm i halt mein Stutzerlein
    Geh übers Bergerl aus. …
    Da springen halt zwoa Gamselein
    Ganz lustig da heraus. …
  4. Da nimm i halt mei Stuzerlein
    Schieß lustig, lustig drein. …
    Die Gamserl sind auf einmal gfalln
    Ghörn alle beide mein. …

Die Melodie der Raindinger Fassung ist ähnlich zu finden bei Brosch (Der Liederschatz des Egerlandes, Nr. 879, aufgezeichnet in Eger 1934) und nach dem Krieg von Brosch 1964 in Windsheim/Franken (herausgegeben von Steinmetz/Richl 1984). Schon Ditfurth (Fränkische Volkslieder … 1855, Nr. 294 Der Gemsschütz) bringt die wohl ursprünglich umfangreiche Geschichte in acht Strophen:

  1. Jetzt kommt die schöne Frühlingszeit,
    wo alle Bäume blühn;
    wo alle Bäume blühn;
    da treibt die schöne Sennderin
    ihr’ Kühlein auf den Grün,
    tra-ru-la-la!
    Da treibt die schöne Sennderin
    ihr’ Kühlein auf den Grün.
  2. Sie treibt sie auf den hohen Berg,
    Wo viele Hüter seyn; …
    Und wo die Allerschönsten sind,
    Da kehren wir jetzt ein, …
  3. Da ging ich einst in grünen Wald,
    Und forschte hin und her; …
    Da kamen auch zwei Gamsel bald,
    ganz lustig zu mir her, …
  4. Da thu ich gleich mein Stutzen ’raus;
    Und schieße wacker drein, …
    Und dacht’ dabei in meinem Sinn:
    Sie gehören beide mein. …
  5. Als ich die Gamserl g’schossen hab’,
    Trag’ ich sie hintern Busch; …
    Da schaut mir grad ein Jäger her:
    »Was machst? Verfluchter Bursch!« …
  6. »Du Jägersbub’, du kommst mir recht,
    Du mußt mein Gamsel trag’n!
    Und tragst du mir’s mein Gamsel nicht,
    So wirst z’sammg’schlagn!« …
  7. Ich lad ihm gleich die Gamsel auf,
    Daß ihm der Buckel kracht, …
    Und geh so stät [?] ja hinterdrein,
    Und hab so sakrisch g’lacht, …
  8. Wenn ich das Ding mein Vater bring’
    So zahlt er mir ein Wein; …
    Wenn ich das Lied im Wirtshaus sing’,
    Muß Alles lustig seyn, …

Da ist ein zentrales Text-Motiv von Liedern über die Wildschützen, das aber in Günzenhausen nicht ausgeführt wird: Der Jäger muss das vom Schützen erlegte Wild aus dem Wald oder ins Tal tragen, der Schütz geht neben ihm und freut sich! Das Bild »hintern Busch« ist mehrfach vertreten.

Die in Günzenhausen und anderen oberbayerischen Dörfern nachgewiesene Melodie ist auch für die 1930er-Jahre in Oberfranken beim Fabrikarbeiter Alwin Erhardt (1913–1935) in Baiergrün festgestellt (Schramm/Zachmeier: Die Liedersammlung des Christian Nützel, ­München 1995, Nr. 489). Dort sind auch die Texte / Inhalte von Günzenhausen weitgehend vorhanden, so dass wir insgesamt von mindestens zwei Grundfassungen dieses Liedtyps ausgehen können, bezüglich Melodie und Inhalt. Bei Erhardt nimmt die Geschichte für den Jäger, der den Wildschützen beim Schuss entdeckt, ein trauriges Ende:

Da legte ich mein Stutzen an
und tracht ihm nach sein Lebn, ja Lebn;
die Kugel ging durch sein Gewand;
ich wollt, sie gings daneben!

Es wohnt ein Pfalzgraf überm Rhein

Mit dieser gesungenen Geschichte kehren wir regional wieder an den Fluss der Deutschen zurück. Nur andeuten können wir hier die Fülle an Liedverwandtschaften und Varianten bei dieser in vielen deutschsprachigen Landschaften wohl seit drei Jahrhunderten in vielen Varianten von Text und Melodie verbreiteten alten Volksballade.

Inhaltlich geht es bei dieser gesungenen Erzählung meist um drei Schwestern, die vom Vater, einem regierenden Fürsten – wie einem König oder einen Pfalzgrafen – der am Rhein seine Besitzungen und sein Schloss hat (ein Pfälzer Wittelsbacher?), hinaus in die Welt ziehen. In einer verbreiteten Textform geht die jüngste Schwester unerkannterweise in den Dienst zu ihrer älteren. Als sie krank wird, erzählt sie von ihrem Vater. Das glaubt die Schwester nicht – sie hat aber einen Brief ihres Vaters dabei. Letztlich kommen die Bemühungen ihrer Schwester zu spät, sie will sterben.

Holzapfel weist auf die grundlegende und vielfältige Dokumentation dieses Balladentypes (Des Markgrafen Töchterlein oder Dienende Schwester) im DVA hin und bringt beispielhaft in seinem Großen deutschen Volksballadenbuch (Zürich 2000) drei ganz verschiedene Textfassungen. Seine umfangreiche und tiefgehende Kommentierung, beginnend mit der Ankündigung »Dass eine Volksballade eine sehr alte Überlieferung haben kann […]«, geht auch auf alte Symbole und Motive ein, wie z. B. die Sieben Jahre, in denen eine Schwester der anderen unerkannt dient. Im Kurzkommentar schreibt er mit Blick auf menschliche Wünsche, die in den Volksballaden in verschiedensten Formen formuliert sind: »Davon träumt wohl jede: unerkannt, aber edler Herkunft zu sein […]«. Wer jetzt neugierig geworden ist, kann seinen Wissensdurst stillen: Im Auftrag von Otto Holzapfel dürfen wir zehn seiner Balladen-Bücher verschenken – schreiben Sie an uns!

Zahlreiche Veröffentlichungen dieser Ballade zeigen die Verbreitung, z. B. beim Motiv Pfalzgraf überm Rhein mit nur wenigen unterschiedlichen Melodien und Texten. Wir haben viele gedruckte regionale Aufzeichnungen mit Melodien gefunden z. B. für Südtirol (Slg. Quellmalz, gedruckt 1968), Oberfranken (Slg. Nützel, 1995), Böhmerwald (Slg. Jungbauer, 1930), Niederösterreich (Slg. Klier, 1950), Egerland (Slg. Brosch, 1986), Burgenland (Slg. Dreo, 1988), Oberösterreich (Slg. Jungwirth, 1925).

In unserer Reihe Auf den Spuren … (s. o.) haben wir viele regionale Belege mit oberbayerischen Fassungen verglichen. Schon in der berühmten Textsammlung Des Knaben Wunderhorn – Alte deutsche Lieder (Heidelberg 1806–1808) bringen Achim von Arnim (1781–1831) und Clemens Brentano (1788–1842) eine Textfassung (Auf den Spuren – Bd. 29 – Bezirk Oberbayern / Volksmusikarchiv 2017, S. 466 – mit wichtigen Kommentaren zur Sammlung und Aufbereitung der Liedertexte im Wunderhorn, ihren Quellen und Gewährspersonen). Auch für den Odenwald (Bd. 14 – 1998, S. 169), das Erzgebirge (Bd. 22 – 2009, S. 372) oder das Elsass (Bd. 19 – 2005, S. 126) gibt es interessante Belege für den Vergleich mit Oberbayern.

Gustav Jungbauer bringt 1930 in seinen Volksliedern aus dem Böhmerwalde einen Liedtext in sechszeiliger Strophenform mit vielen überlieferten Motiven und Wendungen – aber auch eigenständigen Formulierungen und inhaltlichen Sprüngen / Auslassungen – aus Oberschlag (1914) mit dem Titel Die wiedergefundene Schwester (Nr. 10 b). Dabei könnte auch eine zweizeilige Singform möglich sein.

Die Aufzeichnungen von Karl und Grete Horak in Südtirol sind besonders interessant. Einige sind von uns veröffentlicht in Musikalische Volkskultur in Südtirol – Dargestellt in der Sammelarbeit von Karl und Grete Horak (Auf den Spuren Bd. 26 – 2014). Hier finden sich Reinschriften der Aufzeichnungen vom 5. 2. 1941 in St. Martin/Passeier bei Rosa Lackner; vom 17. 2. 1941 in Prissian bei Feuersinger und vom 20. 2. 1941 in Völlan. Die Aufzeichnung vom 3. 1. 1953 in Kurtatsch bei Maria Peer, wo deren Mutter Alfonsa Kassar aus Pennon vorsang (Bd. 7 – 1992), klingt wie unsere Melodie, die wir mit den Moritatensängern in Oberbayern anstimmen (Taschenliederheft Balladen, Moritaten und gesungene Geschichten VIII, Bezirk Oberbayern/Volksmusikarchiv 2003). Horaks Aufzeichnung aus Prissian hat gefühlte Regionalbezüge, wenn in der 2. Strophe die Töchter ins »Oberland« und ins »Niederland« (= Unterland, südlich von Bozen, laut Grete Horak) zogen.

Entnommen aus des Knaben Wunderhorn.

In Oberbayern haben wir von dieser Ballade sechs Belege dokumentiert, vier unvollständige Fassungen um 1980 in Ostermünchen/RO, Weichs/DAH, Erding und München. 1996 hat uns Christl Arzberger (1934 – 2001) aus Wasserburg wenige Strophen auf eine, dem populären Lied vom treuen Husar ähnliche Melodie übermittelt, da geht die junge Schwester bei einer Wirtin in Diensten, Anfang und Ende sind unbekannt, könnten aber wie bei anderen Fassungen die Abreise und den Tod beinhalten:

[…] Bei einer Wirtin klopft sie an,
so leise sie nur klopfen kann.

So eine Dienstmagd brauch ich nicht,
die sich vorm Klopfen hat gefürcht.

Die Wirtin nimmt sie auf ein Jahr,
es wurden aber sieben Jahr.

Und als die Jahr so all umwarn,
da wurd sie krank, zum Gottserbarm.

Frau Wirtin schenkt ein Glaserl ein,
fragt wer die Eltern sein. […]

Äußerst beeindruckt waren wir, als wir auf Vermittlung von Kathi Stimmer-Salzeder am 8. August 2013 bei Frau Maria Niedermaier (geb. 1925) in Aschau am Inn eine Feldforschung machen konnten. Frau Niedermaier war langjährig fast blind und hatte ein sehr großes Liedrepertoire, das sie zur eigenen Freude nutze. Sie kannte das Lied vom Pfalzgraf und seinen Töchtern aus ihrer Kindheit und Jugend, wo es ganz selbstverständlich in der Familie gesungen wurde. »Ja, so war es früher.« – war ihr Kommentar.

Ohne Probleme hat uns Frau Niedermaier die 18 Strophen vorgesungen (s. o.). Es war, wie wenn sie uns eine Geschichte erzählt – und wir durften dann ganz behutsam die Textwiederholung ab der 3. Strophe mitsingen, »so wie früher halt«. Es ist die traditionell auswendige Singart einer Ballade mit vielen kurztextigen Strophen und Vor- und Nachsingern. Die Melodie passt sich der Textlänge und Betonung an. Auch die Form mit Frage und Antwort in teilweiser Textwiederholung ist sehr altertümlich und wäre auch heute gut machbar und beruhigend. Ein wunderbares Gefühl und eine besonders innige Erinnerung kommt auf, wenn wir an Frau Niedermaier denken. Vielleicht wären diese Erzähllieder und die einfach-menschliche und natürliche Singweise auch für heute etwas? »So wie früher halt« – probieren wir es aus.

ernst.schusser@heimatpfleger.bayern

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